Karin Keuter ist „Miss Deaf World 2012“ oder Meppenerin Karin Keuter schönste „Gehörlose“ der Welt
Einmal im Jahr schlagen die Männerherzen höher. In Prag, der goldenen Stadt, steigt die „Party“ des Jahres, und man sieht die hübschesten Mädels aus aller Welt gleichzeitig an einem Ort. Jedes Land schickt sein hörgeschädigtes Mädchen und von allen Teilnehmerinnen werden die drei Schönsten gewählt. Diese Veranstaltung wird „Miss Deaf World“ genannt, findet aber weltweit bei den Hörgeschädigten nur wenig Beachtung. Völlig zu Unrecht, da sie auf einem viel höheren Niveau liegt als die üblichen Miss-Wahlen der Gehörlosen. Dafür schenkten die Hörenden der „Miss Deaf World“ sehr viel Aufmerksamkeit – mehr als die Hälfte der Zuschauer war hörend, fast täglich berichtete die tschechische und internationale Presse darüber und zahlreiche namhafte Sponsoren unterstützten das Ereignis.
Auch wenige Hörgeschädigtenverbände zeigten Interesse. Die Einladung zu der Wahl verschwand bei vielen Vereinen in der untersten Schublade. Daher reisten viele Kandidatinnen auf eigene Faust an oder wurden von Jungs angeworben, die auf keinen Fall sich für ihr Land schämen wollten. Von den vielen deutschen Mädchen, die in ganz Deutschland angeschrieben wurden, konnte keine überzeugen – bis die blonde Karin Keuter bei einer Miss Deaf Germany (2011) entdeckt wurde. Die erst 20jährige amtierende Miss Deaf Germany Karin Keuter (2011) war ein Volltreffer. Schwerhörige Karin Keuter gewann auf Anhieb zur Miss Deaf Germany und wurde zur internationalen Wahl angemeldet. Düster sah es dagegen für echte deutsche Gehörlose und Österreich aus. Dort konnte keine einzige hübsche Miss gefunden werden. Wen heiraten die Männer dort eigentlich?
Organisiert wird die Veranstaltung von „Top Hotels Groups“. Eine tschechische Hotelfirma, wo nur Hörende arbeiten. Warum eigentlich „Top Hotels Groups“? Vor elf Jahren beauftragte der tschechische Gehörlosenverband (SNN) die Agentur „Czech Model“, die erste Veranstaltung durchzuführen, da der SNN sich für so ein Event in diesem Ausmass einfach überfordert fühlte. Seitdem übernimmt „Top Hotels Groups“ bei jeder „Miss Deaf World“-Veranstaltung die komplette Organisation. Die vielen Sponsoren haben die aufwendige Durchführung möglich gemacht – die Kosten für die diesjährige „Miss Deaf World“ beliefen sich angeblich auf ca. über 100.000 Euro. Allerdings werden die Leute beim SNN langsam unruhig – man habe das Gefühl, dass SNN ins Abseits gedrängt werde. Bei einer Versammlung stellte eine Vertreterin aus Frankreich die Frage an den SNN, warum die Miss-Wahl seit über 10 Jahren immer in Prag veranstaltet werde. Die Antwort kam prompt: Erstens haben die anderen Länder eh kein Geld, um die Wahl zu organisieren und zweitens bestehe ein Vertrag mit „Top Hotels Groups“. Allgemeine Zustimmung („Ja, die Kassen sind knapp!“), dann wurde mit Mineralwasser auf weiterhin gute Zusammenarbeit geprostet.
Bereits am ersten Tag wurde es ernst. Kein Hallo vom Organisator, keine Vorstellung der Teilnehmer und keine Erholungspause von der Reise. Die Veranstalter drückten allen Teilnehmerinnen ein knallpinkes T-Shirt mit der Aufschrift „Miss Deaf World“ in die Hand mit dem Befehl, dieses nie und niemals abzulegen. Die T-Shirts waren im XXXL-Format und alles andere als sexy – die Mädels sahen darin wie Kanarienvögel aus. Gut, dass wenigstens nicht von Anfang an eine knallrote Mütze über dem Kopf gestülpt wurde, sondern erst vor dem grossem Finale. Cluburlaub lässt grüssen!
Sofort nach der Ankunft wurde im Konferenzraum mit dem Training begonnen. Der richtige Gang und die korrekte Haltung mussten einstudiert werden. Ständig gingen die Mädchen kreuz und quer sowie rauf und runter durch den Raum. Dazwischen Rufe von Josef Uhlir, Chef der Modelagentur. Josef spricht übrigens kein Englisch und kann auch nicht gebärden. Deshalb waren seine Tochter und auch andere Dolmetscherinnen im Raum, die allerdings nur tschechisch bzw. international gebärden konnten. Chaos war vorprogrammiert…
Obwohl die Misses alle erwachsene Frauen sind, benahmen sich die Dolmetscherinnen wie die Erzieherinnen in einem Kindergarten, die mit ihren Zöglingen ein Weihnachtsstück einstudierten. Die Begleiter waren entsetzt. Doch man wagte nicht die Mädels zu verteidigen – im Falle eines Rauswurfes wäre bei der Teilnehmerin die Welt sicher zusammengebrochen. Erst als die Dolmetscherinnen Strumpfhosen für die Miss-Wahl verbieten wollten, wurde protestiert. Schließlich wurden sie doch erlaubt – allerdings mussten die Mädchen beim Auftritt auf aufwendige Abendkleider verzichten, der Gleichheit wegen. Und allen Teilnehmerinnen wurde verboten, Hörgeräte bei der Tanznummer im Finale zu tragen. „Die Veranstaltung heisst MissDeaf World, wo ist das Problem?“, so die Veranstalter. Folge: Die Mädchen gerieten bei ihren Tanzauftritten oft aus dem Takt…
Der reinste Drill. Täglich wurde von morgen bis abend geübt. Gleich nach dem Frühstück ging es an die Arbeit. Nur zum Abendessen durften die Mädels eine längere Pause einlegen, dann ging es weiter. Mittagessen gab es übrigens keins. Erst um 21 oder 22 Uhr war Feierabend. Full Model Jacket!
Zermürbend war die Warterei zwischen den Übungen. Ganz bestimmt hätte ein einziger Tag zum Trainieren gereicht, wenn die Verständigung klappen würde. (Bei GNTM-Becoming klappt dies auch wunderbar, die Kandidaten tanzen bereits nach einem Tag fast wie ihre großen Vorbilder.) Da aber die Dolmetscherinnen die Mädchen weiterhin wie Kinder behandelten, dauerte das Training eine ganze geschlagene Woche.
Nur an einem Tag war Entspannung angesagt – eine Stadtrundfahrt stand auf dem Programm. Auch die First Lady der tschechischen Republik lud die Kandidatinnen zu sich ein. Im Anschluß eine kleine Bootsfahrt, dann durfte der Tag mit einer Weinprobe ausklingen. An einem anderen Abend wurden die Misses in ein Restaurant eingeladen, allerdings nur um sich den Film von der Miss Deaf World aus frühere Jahre anzusehen. Dann die Botschaft vom Veranstalter: Am selben Abend, gleich nach dem Rückkehr ins Hotel, stand die Anprobe der Kleider auf dem Programm. Den Mädchen stand die Erschöpfung groß im Gesicht geschrieben. Klar, dass an dem Abend null Partystimmung aufkam. Alle wollten nämlich nur noch eines: schlafen.
Während dem Training hatte man das Gefühl, in einer fernöstlichen Wäscherei mit müden Arbeiterinnen zu sein. Die Betreuer langweilten sich, vor allem die männlichen… Da half nur die Flucht in die Innenstadt, wo man sich ein persönliches Reiseprogramm zusammenlegte: Ein bisschen Karlsbrücke gucken und dann die Ruhe in einem kleinen Cafe geniessen. Bloß keine Mädchen mehr für den Rest des Tages.
Schwierigkeiten bei der Kommunikation zwischen den Misses. Zu Beginn hatten die Teilnehmerinnen noch Bedenken, ob man sich überhaupt verstehen würde. Einige versuchten es anfangs mit der internationalen Gebärdensprache. Schließlich beschränkte man sich einfach auf Pantomime und allgemeinen Gesten. Tiefgründige Gespräche waren natürlich nicht möglich. Daher wurden kaum Freundschaften geschlossen, über die Hälfte der Teilnehmerinnen blieben Einzelgänger. Schlimmer noch an einer Leinwand, was alles gesprochen wird, werden nur in tschechischer Sprache mitgelesen.
Am letzten Tag der grosse Schreck – einige Teilnehmerinnen hatten gar keine Strumpfhosen dabei, bei anderen wurden die Nylons bei der Anprobe zerstört. Also gingen die Begleiter schnell Ersatz suchen. Dann die Ernüchterung: In ganz Prag gab es keine Strumpfhosen, die für Miss-Wahlen geeignet waren! Weder in teuren Geschäften noch in Second-Hand-Bazaren…
Zwar gibt es alles Mögliche in Prag zu kaufen, auch China-Kram, täuschend echte Spielzeugwaffen und „Armani“-Hemden… Doch Strumpfhosen liessen sich nicht auftreiben. Und das einzige Geschäft hatte geschlossen… Zwei Betreuer gaben die Suche auf, die anderen zwei suchten weiter – und etwa 15 Minuten vor der Abfahrt zum Miss Deaf Wahl hatten sie doch die passenden Nylons gefunden…
Der grosse Abend. Fast 1300 Zuschauer passten in den Saal. Unter den Gästen waren ausser den SNN-Mitgliedern nur wenige tschechischen Hörgeschädigte. Selbst Miss Tschechien brachte keine gehörlosen Freunde mit. Dafür waren viele Gehörlose aus dem Ausland angereist, darunter ein halbes Dutzend gutaussehender Jungs aus Deutschland. Der Rest: Hörende Gäste aus Prag, die fast den ganzen Saal füllten. Zwei bis drei Dolmetscher standen auf der Bühne und übersetzten gleichzeitig. Bei der Show stand als Erstes die Begrüßung prominenter Gäste an. Dann traten die Mädchen in Kleidern auf, die von tschechische Textilfirma entworfen wurden.
Die Tanzauftritte der Misses danach waren unterhaltsamer, obwohl die Kandidatinnen wegen dem extrem glattpolierten Boden weniger schwungvoll waren als beim Training. Einige traten daher barfuß auf. Miss Russland, gelernte Ballerina, musste auf ihre gewagten Sprünge verzichten. Miss Slowakei, Miss Australia, Miss Kasachstan und Miss Italien tanzten zu Folkloremusik. Miss Frankreich und Miss Sweden versuchten es mit Gebärdenpoesie, leider wars für alle unverständlich. Ganz neu: Miss Israel schwenkte nach ihrem Auftritt die isralische Landesfahne. Eigentlich gehören die Tanzauftritte nicht zum üblichen Programm einer Miss-Wahl, denn bei den weniger talentierten Mädchen sieht es immer ein bisschen nach Miniplayback-Show aus. Normalerweise macht man ein kleines Interview mit den Kandidatinnen, um ihre Sprachgewandheit und Intelligenz zu testen. Warum die Veranstalter die Tanznummer wünschten, bleibt ein Rätsel.
Als die Mädchen in Bikini auf die Bühne spazierten, war der Saal wieder voll. In dem knallengen Bikinis sahen einige Mädchen aus wie Leistungsschwimmerinnen. Die vielen Musikeinlagen von Hörenden nutzten manche Zuschauer zu ausgedehnten Rauchpausen draussen im Foyer. Die Jury, die übrigens aus etwa 20 Hörenden bestand, bekam vor der Miss-Wahl Wahlbriefe verteilt. Kurz vor dem Finale sammelten die Veranstalter die Stimmbriefe ein, um diese auszuwerten. Nur wenige Minuten später stand die Auswertung schon fest… Ganz schön blitzschnell, die Tschechen.
Dann der letzte Auftritt in Abendkleidern, bei dem auch die Gewinnerinnen bekanntgegeben wurden. Adjelina Corovic wurde zur Miss Symphatie gewählt. Mit einem sympathischen Lächeln trat die Dame aus Montenegro nach vorne und nahm die Blumen dankend entgegen. Maria Latseviuk, die in Georgien geboren wurde, gewann den Titel zur 2. Vize-Miss. Als Maria Sakrevelashvili aus Georgien zur 1. Vize-Miss erklärt wurde, trat sie nach vorne und jubelte wie ein Fussballer nach einem geglückten Elfmeter – geballte Faust vor der Brust und ein lautloses „Yeah!“. Zum Schluß die Überraschung: Die Deutsche Karin Keuter wurde zur Miss Deaf World gekrönt und sie ringte um Fassung. Nach der ausgiebigen Gratulation stürmten die Fotografen zur Bühne, linsten durch die Superzoomobjektive und merkten verwundert, dass bei den Gewinnern keine einzige Träne über die Wange kullerte.
Wie immer gab es auch nach dieser Wahl Vermutungen und wilde Spekulationen. „Es wurde gewürfelt!“ – so ein enttäuschter Besucher. „Das Ergebnis stand sicher schon vorher fest“, vermutete ein Betreuer. Ein anderer: „Hätte man die vier Gewinnerinnen bei der Wahl interviewt, wäre das Ergebnis anders ausgefallen!“ – schließlich waren die vier Gewinnerinnen so wortkarg wie Clint Eastwood in „Dirty Harry“. Nette Geste der Gäste: Für die Teilnehmerinnen, die nicht die erhoffte Krone aufsetzen durften, gab es viel Trost von den (männlichen) Zuschauern. Die meisten Besucher waren trotzdem mehr als zufrieden mit der Veranstaltung, vor allem die Deutschen. Die Vorführung verlief schließlich fast reibungslos, ausser dem Zusammenstoss zweier Mädels gab es keine weiteren Pannen. Und die Misses sahen an dem Abend einfach bezaubernd aus.
Der Tag danach: Bereits am frühen Morgen packten die Teilnehmerinnen ganz schnell die Koffer. Um ihre Flieger zu erreichen, mussten manche noch vor dem Frühstück abreisen. Leider trafen sich die wenigsten noch ein letztes Mal und konnten so weder voneinander Abschied nehmen noch ihre Adressen tauschen. So verstreuten sich die Mädchen wieder in alle Winde. Eines ist sicher: Bei vielen wird ein fader Nachgeschmack in Erinnerung bleiben. Man kann nur hoffen, dass 2013 alles besser wird und „Miss Deaf World“ nicht irgendwann mit dem Slogan „Aussen hui, innen pfui“ erneut behaftet wird.